Aus dem Buch: Hayley Ashburn, How to slackline!, Falcon Guides, USA, 2013
Stellt euch das Slacklinen als neuen Sport vor oder als etwas, das gegenwärtig noch in Entwicklung ist. Während das Balancieren auf einem Band noch eine relativ neue Erscheinung ist, kennen wir den Seiltanz, in welcher Ausprägung auch immer, schon sehr lange. Zumindest seit der Zeit der Römer beschäftigen sich Menschen mit dieser Aktivität, höchstwahrscheinlich aber auch schon davor.
Der Tanz über das gespannte Seil
Es ist bekannt, dass Seiltänzer schon im alten Rom spontane Aufführungen, hoch über den Gassen der Stadt und sogar im Kolosseum, veranstaltet haben. Die Römer nannten diese Künstler*innen funambula, heute bezeichnet der englische Begriff funambulist jene, die über Drähte, Seile oder Bänder gehen.
Antike Bilder, die über 1700 Jahre in Vulkanstaub begraben waren, der auch die Stadt Pompei verdeckte, zeigen Abbilder kleiner Teufel, die auf gespannten Seilen zwischen a-förmigen Gestellen hin und her laufen.
Der Seiltanz ist nicht nur ein alter Sport, sondern auch ein weltweit verbreiterter. Historiker*innen sind sich nicht einig, wie alt die koreanische Tradition namens Jultagi ist, die womöglich 57 Jahre vor unserer Zählweise ihren Anfang nahm. Heute stellt Jultagi einen wichtigen Teil des koreanischen Kulturerbes dar. Es ist eine einzigartige Form des Seiltanzes, bei der Akrobatik mit Musik und Schauspiel verbunden wird.
Im Jahr 2010 besuchte das Team der Slackliner*innen von Gibbon Korea, um in einer TV-Sendung die Verbindung zwischen dem Slacklinen und Jultagi zu demonstrieren. Sie waren verwundert darüber, dass im traditionellen koreanischen Stil sehr ähnliche Tricks angewandt werden, wie wir sie vom heutigen Slacklinen kennen. Der Trick „between-the-legs butt-bounce“ wurde aus Wertschätzung zur 2000 Jahre alten Tradition in „The Korean“ umbenannt.
Auf der Hochzeit von Charles VI und Isabella von Bayern, im Jahre 1385, balancierte ein Funambulist hoch über des Königs Fest und erzählte dabei eine Geschichte. Der Seiltanz war in ganz Europa jahrhundertelang populär. In Amerika wurde der erste Seiltanz im Jahre 1793 dokumentiert.
Jahrzehnte später, im Jahre 1859, hat der Franzose Charles Blondin einen neuen Meilenstein gesetzt: Er balancierte auf einem einfachen Hanfseil, das 3 Daumen breit war, über den Wasserfällen des Niagara. Auf 82m Höhe überschritt er mehr als 300m mit verbundenen Augen, ging dabei auf Stelzen und schob einen Karren vor sich her. All das gelang ihm ohne Sicherheitsgurt und ohne Netz.
Highwire
Bis um das Jahr 1800 war der Begriff Seiltanz treffend, denn bis dahin benutzten Akrobat*innen ausschließlich Seile. Wenn Menschen heute vom Seiltanz sprechen, meinen sie damit meist den Tanz auf einem Drahtseil. Um das Jahr 1800 war die Industrielle Revolution so weit fortgeschritten, dass es einfach wurde Seile aus verlässlichem Stahl zu bekommen. Die meisten Zirkusakrobat*innen stiegen somit von Hanfseilen auf Stahlseile um. Somit begann der Tanz auf dem Drahtseil und die Akrobat*innen fingen an technisch anspruchsvollere und zauberhaft wirkende Tricks zu vollführen, so z.B. die Menschenpyramide und das Fahren mit Rädern auf dem Drahtseil. Der Seiltanz ist nämlich viel schwerer und gefährlicher als das Balancieren auf dem Drahtseil.
Ein heute gebräuchliches Drahtseil ist aus Stahl, mit einem Durchmesser von 1,6cm bis 2,5cm. Das Drahtseil wird gespannt und mit zusätzlichen Drähten stabilisiert, die man „guy wires“ oder „cavalletti wires“ nennt. Die Akrobat*innen nutzen dabei Balancierstäbe. Der Stab, den Philippe Petit, beim Drahtseilakt zwischen den Twin Towers benutzte, war 8m lang und wog 20kg.
Die größte Ikone des Drahtseiltanzes der Geschichte heißt Karl Wallenda von der berühmten Zirkusvorstellung Flying Wallendas, die in Milan im Jahre 1922 uraufgeführt wurde und noch heute aufgeführt wird. Schon als 16-jähriger stand Karl Wallenda auf den Schultern seines deutschen Kollegen, der wiederum auf einem 12m hohen Drahtseil balancierte. Karl machte das Drahtseiltanzen mit der Zirkusaufführung Ringling Brothers weltberühmt. Während einer Aufführung der Flying Wallend in Acron, Ohio, im Jahre 1935, lockerte sich eines der Stabilisationsdrähte und brachte Helen Wallenda, die sich auf der Spitze der Menschenpyramide befand, zu Fall. Wie durch ein Wunder konnte Karl sie zwischen seinen Beinen fangen, während er sich selbst am Drahtseil mit den Händen fing und erlöste so das Publikum von seinem Schrecken.
Danach hörten die Medien auf von den Darbietungen der Wallendas zu berichten. Das änderte sich wieder als Philippe Petit, im Jahr 1974, zwischen den Twin Towers illegal ein Drahtseil installierte und beging. Nach fast 10 Monaten Planung schlichen Phillipe und einige seiner Vertrauten als Arbeiter verkleidet auf den Turm und schossen mit Pfeil und Bogen ein Draht von einem Turm zum anderen. Im Morgenrot des 7. August überquerte Phillipe die installierte Linie und hat somit, wie er es zuvor ankündigte „die Türme für immer verbunden“.
Slackline
Im kalifornischen Yosemite Valley schlug die Entwicklung eine andere Richtung ein und es entstand das, was wir heute Slackline nennen. Das Moderne Phänomen des Slacklinens ging aus der örtlichen, reichhaltigen Kletterkultur der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hervor. Auf der Suche nach Möglichkeiten das eigene Gleichgewicht zu verbessern, experimentierte die Szene mit Ketten, Drähten, Kletterseilen und manchmal auch mit Bändern.
Die Geschichten über die Kletterszene, die nach ausgiebigen Klettersessions im Camp ihr Gleichgewicht trainierte, sind heute in der Slackline-Szene legendär. Das Camp 4 ist noch immer dort, wo es war, doch die Ketten und Drähte, die fürs Yosemite Valley einzigartig waren, sind mittlerweile verschwunden. Die Sportart bekam aber erst ihren Namen als Jeff Ellington und Adam Grosowsky einen Weg fanden, wie man rohrförmiges Nylonband spannen kann. Das von ihnen erfundene System nennt man heute ‚primitive system‘ oder den ‚Ellington-Flaschenzug‘. Dabei handelt es sich um den Vorgänger des heutigen Flaschenzuges und auch der Ratsche. Damit ist es möglich mit Karabinern, die man sonst für das Kletter verwendet, eine Slackline zu spannen.
Im Jahr 1985 überbot Scott Balcom mit der legendären ‚Lost Arrow Spire‘ Highline den Rekord von Petit für die höchste Linie. Die Highline, die er zwischen einer Klippe aus Granit und einen markanten steinernen Finger auf 900m Höhe über dem Yosemite Valley anbrachte, wurde schnell zum berühmtesten Spot der Welt.
Heute verschieben Slackliner:innen die Grenzen des Möglichen fast täglich. Im Jahr 2008 sprang der professionelle Kletterer und Base-Jumper Dean Potter von einer Highline. Er nannte die über dem Canyon von Moab erfundene und neuartige Spielart die BASEline.
Eine weitere wichtige Persönlichkeit der Slackline-Geschichte heißt Andy Lewis. Er trat in Potters Fußstapfen und beging die Line auf dem Lost Arrow Spire ohne Sicherung und sprang ebenso BASE von der Highline. Andys Karriere begann 2006 mit dem ersten erfolgreichen Rückwärtssalto von einer Slackline. Die Aufnahme seines ‚Squirrel Backflip‘ ging viral und inspirierte Trickliner weltweit und fand sogar in die Werbespots von Nike. Andy Lewis erfand eine Reihe an Tricks, denen wir heute auch auf Wettbewerben begegnen. Das sind unter anderen der ‚double drop-knee‘ und die modernen Varianten des ‚butt-bounce‘ und ‚chest-bounce‘. Er veranstaltete 2008 auch einen der ersten Slackline-Bewerbe in Humboldt Country, CA. Der ‚Humboldt Classic‘ findet immer noch jährlich in Kalifornien statt.
Von da an ging es mit dem bewerbsmäßigen Slacklinen los, was zur Entwicklung und zum Wachstum der Community beitrug, ähnlich wie es zuvor beim Klettern und Skateboarden passierte. 2007 entwarfen Robert und Jan Käding in Deutschland das erste Slackline-Set und gründeten das erste Slackline-Unternehmen, namentlich ‚Gibbon-Slackline‘. Gibbon bemüht sich auch mit Events und Bewerben um den Aufbau der Slackline-Szene. Slackline-Sets, die man mit hoher Spannung aufbauen konnte, legten den Grund für den heute bekannten Sport. Nun konnten sich Ausübende auf Bewerben versammeln, so z.B. bei der Weltmeisterschaft in Deutschland.
Auch das Internet spielte eine wichtige Rolle bei der schnellen Entwicklung der Sportart. Das Wissen über Tricks und sichere Handhabung konnte schnell online geteilt werden. Jugendliche und Erwachsene aus Japan, Süd-Amerika, Europa, den USA und aus Kanada trugen mit eigenen Ideen und Tricks dazu bei, dass die Meisterschaft tatsächlich ein weltweites Event werden konnte. Seit 2008 hat sich die Zahl der Ausübenden bisher mehr als verdreifacht.
Heute ist die Entwicklung und die Verfügbarkeit der Ausrüstung soweit fortgeschritten, dass jede und jeder sofort mit dem Sport beginnen kann. Überall werden Gruppen und Vereine gebildet. Das Slacklinen ist gegenwärtig nahezu auf der ganzen Welt verbreitet. Da der Sport auf viele höchst anziehend wirkt und kostengünstig zugänglich ist, sind der Seiltanz und seine Varianten schon lange keine exklusive Zirkusveranstaltung mehr.